Interview mit Michael Schedlbauer, Experte für Lebensmitteleinzelhandel und Industry Manager bei der TGW Logistics Group, über die Zukunft des Lebensmitteleinzelhandels aus der Supply Chain-Perspektive.
Herr Schedlbauer, es scheint, als ob in Deutschland und Österreich immer noch viele Verbraucher einen Einkaufszettel schreiben, im Lieblingssupermarkt die Liste abarbeiten und sich dann in einer langen Schlange an der Kasse anstellen. Warum kaufen nur wenig Leute vom Sofa aus bequem im Internet ein?
Michael Schedlbauer: Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Einer der wichtigsten ist die hohe Ladendichte in Ländern wie etwa Deutschland und Österreich, so dass die Märkte relativ schnell zu erreichen sind. Dazu kommt: Speziell in Deutschland sind Verbraucher eher preissensibel und wollen nicht unbedingt für einen Lieferservice zusätzlich Geld ausgeben. Selbst die, die bereit sind, für eine Lieferung nach Hause extra zu bezahlen, haben eine gewisse Skepsis, was die Qualität von frischen Lebensmitteln bei Online-Belieferungen angeht. Sie begutachten lieber selbst im Laden die Qualität von Obst und Gemüse. Fakt ist aber auch: In Deutschland ist der Onlinehandel mit Lebensmittel noch auf einem relativ niedrigen Niveau, wächst aber stark: Der Gesamtumsatz im Online-Lebensmittelhandel stieg 2018 um 20,3 Prozent auf 1,36 Milliarden Euro.
Wie schaut der Online-Handel der etablierten Supermarktketten aus?
Rewe ist der einzige der großen Player im Lebensmitteleinzelhandel, der sein Onlineangebot flächendenkend anbietet. Einige Retailer sind immer noch in einer Warteposition. Das liegt vor allem daran, dass wegen der fehlenden Masse im Onlinehandel sich mit dem Service derzeit kein Geld verdienen lässt. Denn die Ware muss unter hohem Aufwand kommissioniert werden. Viele Ketten starten in nur ein oder zwei Städten oder warten ab, bis die Akzeptanz höher ist. Trotz des harten Wettbewerbs verdienen ja die meisten mit dem stationären Handel noch ordentlich Geld. Viele Kunden sind sehr loyal gegenüber ihrem Lieblingslebensmittelhändler.
No pain, no gain, sagt sich der Onlinehandelsriese Amazon und hat im März angekündigt, die bundesweite Lieferung von frischen Waren in Deutschland zu prüfen. Muss man sich vor dem Retail-Riesen in Europa fürchten?
Fakt ist: Bisher bietet Amazon den Service „Amazon Fresh“ nur in drei deutschen Städten an – für Amazon-Prime-Nutzer, die monatlich 9,99 Euro dafür bezahlen. Fürchten ist der falsche Ausdruck. Die etablierten Ketten sollten vielmehr genau beobachten, was die Amerikaner machen. Durch eine konsequente Kundenorientierung in Sachen Servicelevel und die Ausrichtung an den Kundenwünschen setzt Amazon neue Standards. Wenn die Verbraucher Lebensmittellieferungen binnen zwei Stunden wünschen, kann Amazon den Wunsch in München und Berlin bereits heute über das Angebot „Prime Now“ erfüllen. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass es Jeff Bezos und das Management dabei nicht stört, wenn sie mit einem neuen Service zunächst kein Geld verdienen.
Amazon denkt in den USA laut jüngsten Berichten übrigens ähnlich wie TGW darüber nach, wie man einen Laden in ein lokales Fulfillment-Center verwandeln kann, um den stationären Handel ideal mit Online-Shopping zu kombinieren. Amazon hat einen Vorteil gegenüber etablierten Lebensmitteländlern: Die Firma hat, zumindest in Europa, kein bestehendes Ladennetz und kann so Standorte und Layouts besser wählen. Das hat aber gleichzeitig den Nachteil, dass der Online-Spezialist kein so effizientes und günstiges Supply Chain-Netzwerk hat wie die etablierten Player, die ihre Lieferketten seit einem halben Jahrhundert permanent optimieren.
Wohin geht TGW zufolge die Reise im Lebensmitteileinzelhandel?
Studien zeigen, dass der Warenkorb der Kunden Woche für Woche zu 60 bis 80 Prozent identisch ist. Nur der Rest wird spontan gekauft. Viele Verbraucher stört jedoch, dass sie die Produkte, die sie immer kaufen, aufwendig im ganzen Laden suchen und in ihren Einkaufwagen legen müssen. Das ist Zeitverschwendung und bringt meist wenig Freude. Unser Ansatz lautet: Dieser zeitraubende Prozess soll in die Onlinewelt verlagert werden. Das heißt: Der Kunde bestellt beispielsweise bequem nach Feierabend online von zu Hause aus seine Standard-Produkte und holt diese am nächsten Tag an einem Counter im Laden ab. Und dabei nimmt er bei Bedarf noch Frischeprodukte mit oder probiert Neuheiten aus. Der Vorteil für den Konsumenten: Shopping wird bequemer und zeitsparender. Der Vorteil für den Händler: Er kann die Kommissionierung der Bestellungen durch seine Mitarbeiter gut planen und seine Logistik gleichmäßig auslasten. Und er kann einen Teil der Kommissionierung automatisieren, was wiederum Geld spart. Gleichzeitig lernt er seine Kunden besser kennen und kann ihnen individuellere Angebote unterbreiten.
Um Lebensmitteleinzelhändler auf die Zukunft vorzubereiten, hat sich TGW für die Lösung „OmniStore“ mit dem Ladenbauspezialisten umdasch zusammengetan. Wie funktioniert OmniStore?
TGW kooperiert mit umdasch und einem Handelsunternehmen, um den ersten OmniStore zu realisieren. Im Prinzip steckt dahinter die Idee, dass es in einem Laden einen abgetrennten Logistikbereich gibt, in dem bestimmte Artikel mithilfe von Automatisierungslösungen von TGW effizient eingelagert und zusammengestellt werden. Das kann dann eben genau jener nahezu gleichbleibende, online bestellte Warenkorb sein, den der Kunde zu seinem Wunschtermin abholt oder geliefert bekommt. Die Händler sollen ihre bestehenden Shops fit machen für die Zukunft und konsequent weiter nutzen. Die Märkte sind ein wertvolles Standbein für die Unternehmen und verfügen über einen treuen Kundenstamm. Und dieser soll künftig ein neues Einkaufserlebnis bekommen. Der Teil der Kunden, der online-affin ist, kann künftig für regelmäßige, aber auch spontane Bestellungen das Internet nutzen. Unser Ansatz lautet: Die Logistik muss dem Kundenwunsch folgen, nicht umgekehrt. Dabei stellen wir uns auf ganz unterschiedliche Kundenbedürfnisse ein – vier sogenannte Shopper-Journeys haben wir identifiziert.
Wie schauen diese Kundenwünsche aus?
Wie schauen der intralogistische Prozess und die Kommissionierung im OmniStore aus?
Ein OmniStore kann entweder neu gebaut oder ein bestehender Markt kann umgebaut werden. Herzstück des vom Laden abgetrennten Logistikbereichs ist ein Stingray-Shuttlesystem von TGW mit einer oder mehreren Gassen. Dort werden Behälter mit Waren eingelagert. Liegt eine Kundenbestellung vor, werden die Behälter mit den gewünschten Waren ausgelagert und am TGW-Kommissionierarbeitsplatz PickCenter One kommissioniert. Wichtig: Ins Shuttlesystem kommen zumeist sogenannte B- und C-Artikel, also keine Schnelldreher oder voluminöse Produkte wie zum Beispiel Getränkegebinde. Letztere werden ausschließlich manuell kommissioniert. Die Leistung eines PickCenter One ist im Vergleich zum Einsammeln der Waren in einem Markt sehr hoch: Ein Mitarbeiter kann bis zu 500 Picks pro Stunde erreichen. Zum Vergleich: Wer in einem Geschäft die gleichen Artikel aus den Regalen holt, schafft nur 80 bis maximal 120 pro Stunde. Die Leistung beträgt also das Vierfache. Besonders schnell wird die Abwicklung einer Online-Bestellung, weil mehrere Mitarbeiter einen Auftrag, der im Schnitt 30 bis 40 Artikel umfasst, gleichzeitig abarbeiten können. Einer kommissioniert am PickCenter, die anderen holen die Schnelldreher beziehungsweise besonders große Artikel.
Wie schwierig ist es, bestehende Filialen auf das OmniStore-Konzept umzustellen?
Wir haben unseren Business Case für bestehende Geschäfte ab einer Fläche von 1.200 Quadratmetern gerechnet. Konzeptionell ist er also vor allem auf Filialen außerhalb der Innenstadt ausgelegt. Sinn macht das Ganze, wenn die Deckenhöhe sechs oder mehr Meter beträgt und die Stingray-Shuttles in einer Gasse mindestens 40 Meter zurücklegen können. In einem ein-gassigen System mit einem Kommissionierarbeitsplatz können rund 2.000 Behälter gelagert werden, wobei diese – je nach Artikelstruktur – auch noch in zwei oder mehr Fächer unterteilt werden können. Denkbar ist auch der Einbau einer Temperaturregelung. Aber das erfordert natürlich höhere Investitionen. Der springende Punkt wird manchmal die Deckenhöhe sein. Aber man kann sie ja durch einen Teilumbau des Gebäudes anpassen.
Wie hat TGW den Business Case gerechnet?
Wir haben die Investitionen so gerechnet, dass sie auf zehn Jahre abgeschrieben werden. Im Detail heißt das: Einsparungen beim Personal sind nicht vorgesehen. Die bestehenden Beschäftigten, die bisher unter anderem Regale eingeräumt haben, setzt der Händler nun für die Kommissionierung und den verbesserten Kundenservice ein. Insgesamt gibt es eine ganze Reihe von Vorteilen. Zum einen gewinnt ein Markt an Attraktivität, weil das Servicelevel steigt. Für Kunden gibt es nun viele Möglichkeiten, ihre individuellen Einkaufsbedürfnisse schnell und bequem zu befriedigen. Kunden kaufen laut Studien nach einer gewissen Gewöhnungszeit ans Shopping im Internet auch mehr Waren online. Verkostungen im Bistro oder Promotion-Aktionen helfen, neue Produkte einzuführen. Und Berufstätige haben den großen Vorteil, auch außerhalb der Öffnungszeiten Bestellungen abholen zu können. Das alles führt zu höheren Umsätzen.
Für den Händler verbessert sich zudem die Bestandstransparenz. Im Lager beträgt sie dann 100 Prozent. Gerade hier können ja auch höherwertige Produkte gelagert werden. Man darf nicht unterschätzen, wie hoch die Verluste aufgrund von Diebstahl oder verdorbener Ware in einem stationären Laden sind.
Welche Vorteile werden im Supply Chain Management erzielt?
Die Supply Chain muss trotz des neuen Omnichannel-Angebots nur minimal angepasst werden. Dank regelmäßiger Online-Bestellungen hat ein Händler mehr Transparenz in puncto Bedarfsplanung. Idealerweise befüllt man die Behälter für die Märkte gleich im Logistikzentrum. Das kann man mithilfe von Automatisierung effizienter durchführen als im Geschäft. Prinzipiell denkbar ist aber auch, dass Mitarbeiter die Behälter von den an den Shop angelieferten Mischpaletten bestücken und man somit den Status Quo komplett beibehält.
Wie haben Retailer auf das neue TGW-Konzept reagiert?
Wir haben das Konzept einer Reihe von Lebensmitteleinzelhändlern vorgestellt. Sie fanden die Idee alle gut. Bis auf einen wollen sie aber abwarten und erst einmal ein OmniStore im Alltagsbetrieb sehen. Mit einem bekannten Handelsunternehmen aus der DACH-Region werden wir demnächst eine Anlage umsetzen
Herr Schedlbauer, vielen Dank für das Gespräch.